Berlin geht unter die Haut

Image from wikipedia /  CC BY-SA 3.0 DE / Christian Wolf (www.c-w-design.de)

Image from wikipedia /  CC BY-SA 3.0 DE / Christian Wolf (www.c-w-design.de)

Ein Großstadt-Panorama gehört zu den Höhepunkten vieler Reisen – die Hektik, das bunte Treiben und die schwirrende Energie gehen einfach unter die Haut. Der fantastische Anblick ist jedoch auch eine erstaunlich passende Erinnerung daran, dass wir diese Gänsehaut-Erfahrung ganz ähnlich pulsierenden Metropolen verdanken, die sich unter unserer Haut verstecken: Unseren Körperzellen, die überraschende Gemeinsamkeiten mit Berlin haben.

Die gesamte atemberaubende Vielfalt des Lebens auf diesem Planeten besteht aus Zellen – Elefanten und Käfer, Eiche und Moos, Wal und Bakterie. Wir sind da keine Ausnahme. Es sind unsere Zellen, die über das Berlin-Panorama staunen und nachdenken, die für uns gehen, kichern, gähnen und singen – einfach alles. Zellen begreifen bedeutet, das Leben selbst zu begreifen. Tauchen wir also ein in das ständige Gewimmel, Gewusel und Vibrieren unter unserer Haut. Die Reise könnte deinen Blick in den Spiegel für immer verändern.

 

Die Wohnzimmer-Zelle

Los geht’s mit dem Wesentlichen: Größe. Zellen sind natürlich winzig. Und zwar so winzig, das wir sie überhaupt nicht sehen können, wenn sie alleine auftauchen. Wir können Zellen nur in gigantischen Kolonien wahrnehmen – beispielsweise in Form einer Rose oder eines nervigen Busfahrers. Hunderte Zellen wären nötig, um den Punkt am Ende dieses Satzes zu verdecken. Oder schau dir deine Fingerkuppe genauer an: Die winzigen Hautkanten, aus denen dein Fingerabdruck besteht, sind etwa 20 Zellen breit. Wärst du so groß wie der Berliner Fernsehturm, hätte deine Fingerkuppe die Größe eines Zimmers, und eine Zelle wäre so groß wie ein Reiskorn. Aber lass dich nicht von der winzigen Größe täuschen: Du wirst überrascht sein, was alles auf so kleinem Raum vor sich gehen kann.

Um uns einen ersten Eindruck davon zu verschaffen, was in einer Zelle so los ist, vergrößern wir sie zunächst einmal auf die Dimensionen eines Wohnzimmers. Der Wissenschafts-Journalist Boyce Rensberger liefert eine unvergessliche Beschreibung dieses Anblicks:

“Wie alle Zellen ist die Wohnzimmer-Zelle vom Fußboden bis zur Decke und von Wand zu Wand vollgestopft mit Einzelteilen. In der Wohnzimmerzelle ist die Schwerkraft vernachlässigbar, so wie in echten Zellen auch, und viele Objekte hängen im Raum als wären sie schwerelos. Andere wiederum kleben an verschiedenen Oberflächen und bewegen sich mit ihnen. Der riesige Zellkern von der Größe eines VW Käfers und ein halbes Dutzend Sitzsäcke bewegen sich gemächlich in der Luft. Die “Luft” ist natürlich das Wasser innerhalb der Zelle. Darin befinden sich so viele Moleküle (verbundene Atome) und andere Strukturen, dass es so dickflüssig wie Wackelpudding ist.”

Schau dir die folgende Illustration als Gedankenstütze an, auch wenn sie schmerzhafte Erinnerungen an den Biologie-Unterricht wachrufen könnte. (Zum Glück sind die einzelnen Bestandteile nicht beschriftet – diesmal muss nichts auswendig gelernt werden.)

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By Zaldua I., Equisoain J.J., Zabalza A., Gonzalez E.M., Marzo A., Public University of Navarre – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=46386894

 

Die Grafik ist nützlich, aber zugleich irreführend. Alle kleinen Bestandteile wurden weggelassen, damit man die großen überhaupt sehen kann. Außerdem zeigt das Geschehen in der Wohnzimmer-Zelle, dass dies nur ein Schnappschuss ist, denn alles befindet sich in Bewegung:

“Ab und zu trennt sich ein kleiner Teil eines Sitzkissens und formt eine Blase von der Größe eines Golfballs. Sie schwebt davon wie eine Luftblase, trifft dann auf ein langes Seil, das bis zur Wand reicht, und bewegt sich plötzlich daran entlang Richtung Wand … das ganze Zimmer ist durchzogen von einem dichten Netz aus Seilen und Schnüren, die alle kreuz und quer durchs Zimmer reichen … Zahllose lange Würste schlingern umher … Es gibt riesige Oberflächen aus locker gefaltetem Material, ähnlich einem Heißluftballon, aus dem die Luft entwichen ist … hunderte von Grapefruits und ein paar Basketbälle schweben im Raum.”

Die Wohnzimmer-Zelle vermittelt einen guten Eindruck von den Dimensionen. Aber sie kratzt nur an der Oberfläche der zugrundeliegenden Komplexität. Tauchen wir also noch tiefer ein und werfen einen Blick auf die ganzen kleinen Bestandteile, die die obige Illustration unterschlagen hat. Das folgende Aquarell stellt äußerst naturtreu eine beliebige winzige Ecke der obigen Zelle dar. Wie du siehst, ist sie wirklich vollgestopft mit einem ganzen Maschinenpark, der dich in dieser Sekunde am Leben hält. Wieder fehlt die Bewegung. Aber in diesem Fall ist das auch ganz gut, weil auf diesem Niveau alles so schnell abläuft, dass wir vor lauter frenetischem Gezappel gar nichts mehr sehen könnten.

 

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Die langen Strukturen sind Teil des Zellgerüstes; viele der kleineren Gebilde sind Maschinen, die gerade neue Zellbausteine produzieren. Illustration von David S. Goodsell, the Scripps Research Institute.

 

Eine vibrierende Metropole

Sogar simple Bakterien sind so kompliziert, dass sie schon oft mit einem Boeing 747 Jumbo Jet verglichen wurden (allerdings müsste es ein ziemlich fortgeschrittenes Modell sein, dass sich mitten im Betrieb selbst reparieren und kopieren kann, was Bakterien am laufenden Band machen.) Eine menschliche Zelle jedoch übersteigt das bei weitem: Sie ist ein vielfaches größer und vielschichtiger.

Um uns wirklich eine Vorstellung von dem Treiben darin verschaffen zu können, vergrößern wir die Zelle auf die Größe von Berlins Stadtzentrum. Das ist gar nicht so übertrieben wie es zunächst klingen mag. Der auf Zellen spezialisierte Biochemiker Guy Brown besteht darauf, dass man sich eine Zelle am besten als “riesige, vibrierende Metropole” vorstellt:

“Viele Dinge wie zum Beispiel Autos und Tassen werden immer weniger interessant, wenn man sie sich im Detail oder in größerem Maßstab anschaut. Aber in der Biologie ist das Gegenteil passiert … Oberflächlich gesehen sieht ein Mensch wie ein ziemlich simples Ding aus: Ein paar Gliedmaßen, um die Welt zu beeinflussen, und ein paar Löcher, um Dinge in den Körper hinein zu befördern und wieder hinaus. Aber wenn wir uns auf ein millionenfach kleineres Level begeben, in das Gefilde einer einzelnen Zelle und ihres Maschinenparks, betreten wir eine andere Welt von fast unvorstellbarer Komplexität. Hunderttausende von verschiedenen Gebilden machen zehntausend verschiedene Dinge, in einem frenetischen Tempo, das man nicht verfolgen kann.”

Unsere Stadtzentrum-Zelle ist jetzt 100 millionenfach vergrößert und zwei Kilometer breit. Atome sind hier so groß wie Erbsen, einzelne Zucker-Moleküle so groß wie eine Orange. Die meisten Proteine, die als kleine Roboter Akkordarbeit leisten oder als Baustoffe dienen, haben die Ausmaße von Ziegelsteinen oder Waschmaschinen. Sie werden von komplizierten Apparaturen in der  Größe eines Lieferwagens produziert. Das Gerüst der Zelle besteht aus zahllosen Fasern mit einem Durchmesser von einem Meter, wie Träger oder Masten. Die Energieversorgung erfolgt durch rund tausend wurstförmige Kraftwerke von je 100 Metern Länge. Folgen wir Browns Beschreibung:

 

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“Stell dir diese gigantisch vergrößerte Zelle als eine Metropole vor, die im Raum schwebt und von Milliarden winzigen und spezialisierten Robotern bevölkert wird, die tausende von verschiedenen Aufgaben erledigen und dabei Billionen von anderen Molekülen erschaffen, zerlegen und bewegen, um die Zelle zu ernähren, mit Energie zu versorgen, und instand zu halten.”

Wie in einer Stadt transportiert ein automatisierter Lieferdienst auf einem komplexen und ständig erneuerten Wegenetz Maschinen und Rohmaterial zu ihren Bestimmungsorten; Abfall wird nach außen verfrachtet und Rohstoffe hineinbefördert. Die Rezepte für die Herstellung der einzelnen Zellbestandteile und die Koordination der gesamten Operation, enthalten in unserer Erbsubstanz DNA, werden ständig kopiert und auf Fehler überprüft.

Die folgenden Animationen von Drew Berry bieten eine fantastische und naturgetreue Visualisierung von einigen Prozessen, die laufend in jeder Zelle vor sich gehen. Aber hier gilt das gleiche wie schon oben: Er musste die allermeisten Aktivitäten weglassen, damit man überhaupt etwas sehen kann!

 

In diesem großartigen TED talk erklärt Berry seine Arbeit (auf English). Eine weitere faszinierende Visualisierung einer Zelle ist dieses Video von der Universität Harvard.

 

Genau wie das Zentrum von Berlin ist auch die Zelle eine ständige Baustelle. Aber im Gegensatz zu Berlin, wo Bauarbeiten selten im Zeitplan bleiben, läuft die Arbeit in einer Zelle blitzartig schnell ab. Ein Beispiel: Ein Verbindung zwischen zwei Zellen, die aus rund 100.000 Teilen besteht, wird jeden Tag komplett erneuert. Auch das komplizierte Gerüst der Zelle wird laufend an einigen Stellen aufgelöst und woanders wieder aufgebaut.

 

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Die Hektik und Geschäftigkeit auf diesem Niveau entzieht sich jeder Vorstellungskraft. Angetrieben von dem wilden Gezappel der Atome benötigen kleine Partikel im Schnitt nur eine Sekunde, um von einem Ende der Zelle zum anderen zu gelangen. In unserer Stadtzentrum-Zelle rasen sie umher wie Kanonenkugeln – Milliarden gleichzeitig. Hier noch einmal Brown:

“Die ganzen kleinen Moleküle vibrieren und rotieren und kollidieren dabei etwa eine Milliarde mal pro Sekunde. Das unaufhörliche Zittern wird angetrieben von der Wärmeenergie des Körpers, also der zufälligen Bewegung der Moleküle. Und dieses zufällige Zittern treibt die ganzen kleineren Moleküle dazu, unaufhörlich in der Zelle umherzuwandern … in etwa wie ein außer Kontrolle geratener (drei-dimensionaler) Flipper, mit Billionen von Bällen, milliardenfach beschleunigt.”

 

Berlin auf Speed

Bei näherer Betrachtung ist es kein Wunder, dass wir uns die fantastische Geschwindigkeit der Prozesse in einer Zelle kaum vorstellen können. Denn sogar ein einzelner unserer Gedanken erfordert Milliarden von Aktionen in Milliarden von Zellen. Man kann sogar sagen, dass Milliarden von Aktionen in und zwischen Milliarden von Zellen ein einzelner Gedanke sind. Unsere Vorstellung kann das Gezappel niemals einholen, weil sie daraus besteht. Gedanken sind notwendigerweise langsamer als die Prozesse, die sie produzieren.

Aber selbst wenn es nahezu unmöglich ist, sich die Aktivität in einer einzelnen Zelle vorzustellen, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass allein in deiner Fingerkuppe mehr Zellen hausen als es Menschen auf der Erde gibt. Insgesamt bestehst du einer aktuellen Schätzung zufolge aus rund 37.000.000.000.000 (37 Billionen) Zellen. Übersetzen wir diese verrückte Zahl: Wenn du deine Zellen zählen wolltest, eine pro Sekunde, wärst du damit rund eine Million Jahre beschäftigt. Und in jeder einzelnen dieser Zellen geht es genauso hektisch zu wie in der nächsten.

Dieser Gedanke ist etwas überwältigend, deshalb sollten wir am besten nach Berlin zurückkehren, um uns das Leben einer einzelnen Zelle zu vergegenwärtigen. Nichts ist dafür besser geeignet, als das Treiben einer Großstadt zu betrachten und es im Geiste zu beschleunigen – in etwa so wie in dem folgenden Video:

 

 

Dabei sollten wir nie aus den Augen verlieren, wozu dieses verrückte Gewusel gut ist. Schau einfach in den Spiegel und denke an die folgenden Worte des Umweltschützers und Autors Paul Hawken:

“Halte einen Augenblick inne. Fühle deinen Körper. Eine Quadrillion Aktivitäten laufen dort gleichzeitig ab, und dein Körper macht es so gut, dass du es einfach ignorieren und dich stattdessen fragen kannst, wann diese Rede zu Ende sein wird. Du kannst es fühlen. Es nennt sich Leben. Das bist du.”

 

Literatur: 

Stephan Berry 2007: “Was treibt das Leben an? Eine Reise in den Mikrokosmos der Zelle”

Eva Bianconi et al 2013: “An estimation of the number of cells in the human body”, Annals of Human Biology Vol 40, Issue 6

Guy Brown 2000: “The Energy of Life: The Science of what Makes Our Minds and Bodies Work”

David S. Goodsell 2009: “The Machinery of Life”

Franklin M Harold 2001: “The way of the Cell: Molecules, Organisms and the Order of Life”

Paul Hawken 2009: Commencement Address to the Class of 2009, University of Portland

Dale W. Laird, Paul D. Lampe & Ross G. Johnson 2015: “Cellular Small Talk“, Scientific American 312, 70 – 77

Boyce Rensberger 1996: “Life Itself: Exploring the Realm of the Living Cell”


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