Entspannt abhängen zwischen Atomen und Sternen

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Du kennst doch sicher diesen von leicht feuchten Händen und weichen Knien begleiteten Schwindel, wenn man in einen Abgrund hinabblickt oder senkrecht einen hohen Turm hinauf? Ein ähnliches aber deutlich angenehmeres Gefühl beschleicht einen, wenn man sich völlig losgelöst unsere relative Größe in dieser Welt bewusst macht: Ganz oben sind unfassbar riesige Sterne; ganz unten unglaublich winzige Atome.

Was die Größe angeht, befinden wir uns tatsächlich genau zwischen Atomen und Sternen. Einzig in dieser goldenen Mitte sind einige Atom-Klumpen dermaßen kompliziert, dass sie sich selbst Fragen stellen können: “Ob noch Bier im Kühlschrank ist? Soll ich hier weiterlesen oder lieber zur Webseite mit den schicken Schuhen rüberklicken?” (Bei Bier und Schuhen bin ich mir unsicher, aber ich will doch hoffen, dass sich die Lektüre lohnt).

 

Die goldene Mitte

Auch wenn wir dies im Alltag fröhlich ausblenden, bestimmen sowohl die Mikrowelt als auch der kosmische Zusammenhang unsere Existenz. Wenn man sich klarmachen will, wo wir stehen und was wir wirklich sind, kann man darum keinen Bogen schlagen.

Der britische Hofastronom Martin Rees (Kein Witz – er ist Leiter der königlichen Sternwarte in Greenwich und führt deshalb den Titel “Astronomer Royal”) nennt die Dinge beim Namen – Und kommt dabei nicht ohne 28 oder 29 Nullen aus: “Wir alle bestehen aus 1028 bis 1029 Atomen. Diese ‘menschliche Größenordnung’ befindet sich in Zahlen ausgedrückt genau zwischen der Masse eines Atoms und der eines Sterns. Um auf die Masse der Sonne zu kommen, würde man ungefähr so viele Menschen benötigen, wie sich Atome in jedem einzelnen von uns befinden…Wir sind eine Mittelgröße zwischen Kosmos und Mikrowelt – zwischen der Sonne, mit einem Durchmesser von einer Milliarde Meter, und einem Molekül (eine Gruppe von Atomen) mit einem Milliardstel Meter.”

Unsere direkte Erfahrung von Größenordnungen reicht von den kleinsten Dingen, die unsere Augen wahrnehmen können, bis zu einem Interkontinentalflug, und beschränkt sich damit auf einen Bruchteil der wahren Spanne. In Rees’ Worten ist es so offensichtlich, dass wir es für selbstverständlich halten, dass “unser Universum eine riesige Spanne von Größenordnung und eine große Vielfalt von Strukturen umfasst, die viel größer oder viel kleiner als die Dimensionen unserer Alltagserfahrungen sind.”

Eine klassische Erinnerung an diese Spanne ist der Kurzfilm “Powers of Ten” (auf deutsch “Zehn Hoch”) von Charles and Ray Eames für IBM von 1977. Die beiden haben sich zwar vor allem mit schickem Möbeldesign einen Namen gemacht. Sie leisten aber auch ganze Arbeit in ihrem “Film über die relative Größe von Dingen im Universum und dem Effekt einer zusätzlichen Null”. Auch wenn du ihn schon kennst – die neun Minuten lohnen sich immer wieder:

 

 

Wenn deine Zeit arg knapp ist oder du eine Aversion gegen 70er Jahre Hemden und Synthesizer hast, gibt es auch eine kürzere Version von Google, die nur drei Minuten dauert. Los geht’s – welche Überraschung! – vom Nabel der Welt im Silicon Valley. Diese Version ist auch Klasse und der Unterschied – mal abgesehen vom Soundtrack – zeigt deutlich, dass wir an beiden Enden der Skala in der Zwischenzeit einiges dazugelernt haben.

 

 

Versteckte Realität

Allein in den vergangenen 40 Jahren hat sich unser Verständnis an beiden Enden der Skala deutlich geschärft. Wenn man sich noch weiter in die Vergangenheit bewegt, nimmt die Verschwommenheit rapide zu. Man vergisst nur allzu leicht, dass die Menschen vor nicht allzu langer Zeit gar keine Ahnung davon hatten, dass viele dieser Größenordnungen überhaupt existierten. “Als meine Grußmutter Signe im Alter von 102 Jahren starb, habe ich lange über ihr Leben nachgedacht. Mir wurde plötzlich klar, dass sie in einem anderen Universum aufwuchs”, schreibt der Physiker Max Tegmark. “Als sie zur Hochschule ging, bestand das bekannte Universum lediglich aus dem Sonnensystem und einem Schwarm von Sternen drumherum…heutzutage betrachten wir das alles lediglich als unseren kosmischen Vorgarten.”

Spulen wir noch weiter zurück, wächst die Ignoranz exponentiell. Der wohl dramatischste Durchbruch zu neuen Größenordnungen war die Erfindung von Teleskop und Mikroskop im 17. Jahrhundert. Der Physiker und Schriftsteller Alan Lightman ist davon überzeugt, dass die folgenden Entdeckungen unbekannter Welten “den Beginn einer neuen Ära der Menschheitsgeschichte markierten, in der wir neue Erkenntnisse über die Natur nicht mit unseren eigenen Sinneswahrnehmungen gewinnen, sondern mit Instrumenten und Berechnungen…was wir mit unseren Augen sehen, mit unseren Ohren hören und mit unseren Fingerspitzen fühlen, ist lediglich ein winziges Scheibchen der Realität. Schritt für Schritt, mit künstlichen Gerätschaften, haben wir eine versteckte Realität enthüllt.”

 

Der Blick nach unten und oben

Der niederländische Biologe F.W. Went schrieb in seinem Essay “Die Größe des Menschen”: “Die relative Bedeutung von Größe war dem Menschen völlig unbekannt, bis er damit begann, mit Linse und Mikroskop die Welt zu untersuchen. Als der Mensch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum ersten Mal durch ein Mikroskop blickte, wurde er sich schlagartig einer völlig neuen Welt gewahr, die er zuvor noch nicht einmal vermutet hatte: Die Mikro-Welt.”

Der niederländische Leinenhändler Antonie van Leeuwenhoek warf vor fast 400 Jahren als erster einen Blick in diese Mikrowelt – und traute seinen Augen nicht. Er war von dem prallen Leben in einem Wassertropfen völlig überwältigt, wie er in einem Brief schrieb: “Viele unserer Vorstellungen und Erforschungen der Natur sind nutzlos, besonders wenn wir winzige lebende Tierchen und ihre Beine sehen und annehmen müssen, dass sie zehntausend mal dünner sind als eines meiner Barthaare…das ganze Wasser schien lebendig vor lauter verschiedenen Tierchen. Von all den Wundern, die ich in der Natur entdeckt habe, war dies das wunderbarste, und ich muss sagen, dass meinem Auge noch kein Anblick je vergnüglicher war als der von abertausenden lebenden Kreaturen in einem kleinen Wassertropfen, die sich alle drängen und bewegen.”

 

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Leeuwenhoek’s “Animalcules” genannten Tierchen

 

Wen wundert es, dass Leeuwenhoeks’ Beobachtungen eine Sensation darstellten. Noch heute ist die Mikrowelt in einem Wassertropfen durch ein Mikroskop ein atemberaubender Anblick. Aber zum Glück ist unser Trinkwasser keine “Monstersuppe” mehr.

 

Monster Soup

 

Kurz bevor Leeuwenhoek Linsen benutzte, um in die Mikrowelt zu blicken, hatte Galileo Galilei die neue Technologie dazu benutzt, die entgegengesetzte Richtung zu erforschen: Er erkundete mit seinem Teleskop den Mond, Planeten und Sterne. Galileo erklomm völlig neue Größenordnungen, als ihm klar wurde, dass der weißliche Schleier der Milchstraße am Nachthimmel aus unzähligen Sternen bestand, die für das bloße Auge unsichtbar waren. Er berichtete, dass sein Teleskop “eine Unzahl von Sternen deutlich sichtbar machte, die noch nie zuvor erblickt wurden, und deren Zahl die der alten, bislang bekannten Sterne um mehr als das zehnfache überstieg.”

Galileo richtete sein Teleskop auch auf den Mond. Die Krater und Berge, die er dort erblickte, zerstörten den zentralen religiösen Glauben an die Unveränderlichkeit und Vollkommenheit von Himmelsobjekten. Die Entdeckung von Jupiters Monden bewies außerdem, dass sich im Himmel nicht alles um die Erde drehte.

 

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Galileo’s Skizze eines überraschend hubbeligen Mondes

 

“Van Leeuwenhoek schaute durch ein Mikroskop nach unten, um dort eine kleine Welt zu erblicken”, schreibt der Paleontologe Neil Shubin. “Galileo schaute zum Himmel und entdeckte eine riesige Welt, mit unfassbar großen Planeten und gewaltigen Entfernungen. In van Leeuwenhoeks Welt überwältigt uns die Vielfalt mikroskopischen Lebens vor unserer Nase und in unserem Körper; in Galileos Welt dagegen die schiere Größe der Welt um und über uns.”

 

Sechzig Nullen machen das Universum interessant

Seit den Tagen von Galileo und Leeuwenhoek haben wir herausgefunden, dass die Natur gleichzeitig viel größer und viel kleiner ist, als sich die beiden Entdecker jemals hätten vorstellen können. Um die heute bekannte Spanne von Größenordnungen zu illustrieren, nutzt Rees eine Abbildung des Ouroborus, laut Encyclopaedia Brittanica die “symbolische Schlange des antiken Ägypten und Griechenland, die sich selbst mit dem Schwanz im Maul ständig verschlingt und aus sich selbst wiedergeboren wird.” Sie stellt die “Einheit aller materiellen und spirituellen Dinge dar, die nie verschwinden, sondern in einem ewigen Zyklus aus Zerstörung und Neu-Erschaffung ihre Form verändern.”

 

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Ouroborus mit der Mikrowelt der Atome links und Planeten und Galaxien rechts. Die genaue Verbindung zwischen der subatomaren Welt und und dem Kosmos ganz oben ist immer noch eines der größten Rätsel der Physik.

 

“In dem Ouroborus werden sechzig Zehnerpotenzen dargestellt. Diese gewaltige Spanne ist eine Grundvoraussetzung für ein ‘interessantes’ Universum. In einem Universum ohne große Zahlen könnte sich niemals eine komplexe Hierarchie von Strukturen ausbilden: Es wäre eintönig, und mit Sicherheit nicht bewohnbar”, schreibt Rees. “Die ungeheure Größe unseres Universums, die auf den ersten Blick zu bedeuten scheint, wie unwichtig wir in diesem kosmischen Schema sind, wird durch unsere Existenz bedingt!”

Rees besteht darauf, dass uns die gewaltigen Ausmaße des Weltraums nicht überraschen sollten – ganz einfach weil sich “Kreaturen wie wir nur unter besonderen Umständen entwickeln können.”

Wir sollten außerdem keine zittrigen Knie bekommen, weil wir in Sachen Komplexität womöglich alles andere übertrumpfen. “Die unglaubliche und faszinierende Komplexität der biologischen Evolution und die Vielfalt des Lebens auf Erden machen uns klar, dass alles in der unbelebten Welt im Vergleich sehr einfach aufgebaut ist…Manche Dinge sind schwierig zu verstehen, weil sie komplex sind, aber nicht, weil sie groß sind.”

 

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Dieses fantastische Spielzeug für Größenordnungen musst du unbedingt ausprobieren
(Vielleicht am Besten, nachdem du zu Ende gelesen hast!)

 

Wie schwierig es auch sein mag, sich die vielen Größenordnungen der Natur klarzumachen: Ohne diese gewaltige Spanne gäbe es uns nicht. So komplizierte Dinge wie Menschen lassen sich nur mit einer unfassbar großen Anzahl von Bausteinen konstruieren. Deshalb erscheinen uns Atome so klein. Gleichzeitig kann nur ein riesiger Kosmos die für unsere Entwicklung nötigen Zeiträume bereitstellen. Nur dort können außerdem die Atom-produzierenden Hochöfen entstehen, die wir Sterne nennen.

 

Beide Richtungen genießen

Dennoch ist die Spanne an natürlichen Größenordnungen so enorm, dass unser Gehirn sie nicht wirklich erfassen kann. “Die Wissenschaft hat die Ausmaße unseres Kosmos gewaltig vergrößert, aber unsere emotionale Realität wird noch immer davon begrenzt, was wir mit unseren Körpern in der Zeitspanne unseres Lebens berühren können”, schreibt Lightman. “Die Moderne Wissenschaft hat eine Welt enthüllt, die so weit entfernt von unseren Körpern ist wie Farben von einem Blinden.”

Kein Wunder also, dass uns die Größenverhältnisse verwirren:

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Eines von Dirk’s wunderbaren Big Bunnies – hier ist seine Webseite.

 

Dennoch ist Größe wichtiger als alles andere, wenn wir die Welt verstehen wollen, so Lightman. “Von all den verschiedenen Eigenschaften der Dinge erscheint keine unmittelbarer und wichtiger als Größe…Bewusst und unbewusst vergleichen wir ständig unsere physischen Abmessungen mit den Dimensionen anderer Leute, Bäume, Tiere, Ozeane und Berge. Wir mögen uns zwar für sehr clever halten, aber unsere erste Eigenschaft, die wir der Welt präsentieren, sind unsere Körpergröße, unser Volumen, und unsere Masse…bei unserem Ausloten des Kosmos müssen wir ein geistiges Inventar von simplen Abmessungen und Größenordnungen parat haben, dass von Atomen zu Mikroben und zu uns Menschen, sowie zu Ozeanen, Planeten und Sternen reicht.”

Aber lassen wir uns von den gewaltigen Zahlen nicht schwindelig machen, die uns von der Mikrowelt zu den Sternen tragen. Stattdessen sollten wir es lieber genießen, hier zwischen Atomen und Sternen abzuhängen. Dabei könnten wir zum Abschluss keinem Besseren zuhören als dem kichernden Physiker Richard Feynman: “Die Leute finden diese Zahlen unvorstellbar, und mir geht es genau so…Am besten entspannen wir uns einfach und genießen unsere Winzigkeit und die enorme Größe des Universums. Klar, wenn dich das deprimiert, dann kannst du es andersherum sehen und darüber nachdenken, wie riesig du im Vergleich zu Atomen und deren Bestandteilen bist, und dann bist du selbst im Vergleich ein riesiges Universum. Du kannst sozusagen in der Mitte stehen und es in beide Richtungen genießen!”

 

 

Quellen:

Alan Lightman (2014): “The Accidental Universe”

Martin Rees (1999): “Just Six Numbers: The Deep Forces that Shape the Universe”

Neil Shubin (2013): “The Universe Within: A Scientific Adventure”

Max Tegmark (2014): “Our Mathematical Universe”

F.W. Went (1968): “The Size of Man”, American Scientist, 56, 4, pp. 400-413


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