Herzlich willkommen in der (fast) perfekten Virtual Reality Show!

my boy!

Wie könnte ein Virtual Reality System in der Zukunft aussehen? Vergiss klobige “Hi-Tech” Brillen. Stell dir stattdessen vor, ein mit hochauflösenden Kameras aufgenommener Film könnte per Kabel direkt in dein Gehirn eingespeist werden, um dort eine lebhafte 3D Illusion zu erzeugen. Ein mit Top-Mikrofonen aufgenommener Soundtrack simuliert die Umgebungsgeräusche. Weitere elektrische Signale für die Wahrnehmung von Geruch, Geschmack und Tastsinn vervollständigen die Show. Lust auf eine Kostprobe?

Kein Problem. Zum Glück bist du ja bereits der stolze Besitzer genau dieses Systems – es war gratis bei deinem Kopf dabei. Du brauchst dich nur kurz auf deine Umgebung zu konzentrieren, um die Leistungsfähigkeit des Simulators zu erleben. Ganz schön überzeugend, oder? Herzlich willkommen in der (fast) perfekten Virtual Reality Show, mit freundlicher Genehmigung von YourBrain Filmstudios Inc.!

Um das Erlebnis deines eingebauten High-End-Headsets weiter zu steigern, ist es jetzt an der Zeit, endlich einmal den Beipackzettel zu lesen.

neurocomic1Aus Matteo Farinella und Hana Ros’ “Neurocomic”

 

Was ist da draußen wirklich? 

Mache dir einen Moment bewusst, was du gerade “siehst”. Die Großleinwand-Projektion, die du für die Welt da draußen hältst, ist nichts weiter als Kopfkino. Dein Gehirn interpretiert Signale von den sogenannten Fotorezeptor-Zellen in deinen Augen sowie Impulse von den Ohren – und komponiert daraus einen Film samt Soundtrack. Unsere eindringliche Erfahrung der Realität ist ein täuschend echtes Qualitätsprodukt von YourBrain Filmstudios Inc.

Versteh mich nicht falsch – ich behaupte keineswegs, dass dein Gehirn in Wirklichkeit in einem Gefäß lagert und mit einer Virtual Reality Show a la Matrix verkabelt ist. Aber wenn man etwas darüber nachdenkt, ist die Realität gar nicht so weit davon entfernt. Dein Gehirn hat keinerlei direkten Kontakt mit der Realität da draußen. Stattdessen wird es von unseren Sinnesorganen mit elektrischen Impulsen gefüttert und kreiert daraus ein internes Modell der Umgebung.

Was wir für die kunterbunte und lebhafte Realität halten, ist lediglich eine Simulation, die unser Gehirn in Echtzeit abspielt – in völliger Dunkelheit. Diese Show basiert zwar auf Signalen aus der Realität, aber wir sollten sie nicht mit ihr verwechseln. Denn unser Erlebnis ist in keinster Weise das gleiche wie die Wirklichkeit da draußen.

 

virtual reality

 

Sieht mein Rot genauso wie dein Rot aus? 

Farben sind ein hervorragendes Beispiel. Was wir als “Rot” bezeichnen, ist die Darstellung unseres Gehirns von Licht mit einer Wellenlänge von rund 700 Nanometern – Es ist eine Illusion. Wir können keine Aussage darüber treffen, wie “Rot” in Wirklichkeit aussieht. Die Frage an sich ergibt keinen Sinn, denn Farbe – so wie wir sie wahrnehmen – erscheint lediglich im Auge des Betrachters – oder vielmehr in seinem Hirn. “Rot” existiert da draußen gar nicht, sondern einzig vor unserem inneren Auge.

“Farbe kommt nicht in der Welt vor, sondern nur im Geiste”, schreibt die Dichterin Diane Ackerman. “Ist ein Apfel wirklich rot, wenn kein menschliches Auge zugegen ist, um ihn zu betrachten? Die Antwort lautet Nein – zumindest nicht in dem Sinne, den wir mit ‘Rot’ meinen…Wir halten unsere Augen für weise Seher, dabei tun sie nichts weiter, als Licht einzusammeln.”

“Was wir als Sehen bezeichnen, passiert gar nicht in den Augen, sondern im Gehirn. Um in ganzer Farbenpracht und bis ins letzte Detail zu sehen, haben wir noch nicht einmal Augen nötig. Wir erinnern uns oft an Situationen, die Tage oder gar Jahre zurückliegen, und sehen sie dabei vor unserem geistigen Auge. Wir können uns sogar frei erfundene Ereignisse vorstellen, wenn wir wollen. Wenn wir träumen, sehen wir in überraschender Detailtreue.”

Unsere Augen nutzen chemische Reaktionen, um einzig und allein die Menge von “rotem”, “grünem” und “blauem” Licht zu registrieren, das in sie hineinfällt. Die Fotorezeptoren senden diese Information, Morsezeichen gleich, durch Nervenzellen ins Gehirn. Ähnlich wie ein Fernseher mischt das Gehirn aus diesen drei Signalen die ganze Farbenpracht unseres Kopfkinos zusammen.

Dabei ist es unmöglich zu sagen, ob die Wahrnehmung von “Rot” für uns beide das gleiche Erlebnis ist. Sieht mein Rot genauso aus wie dein Rot? Wir können uns natürlich leicht darauf einigen, dass Rot die Farbe von Blut oder dem Stop-Signal einer Ampel ist. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass dein Rot das gleiche ist wie meins – es könnte völlig anders aussehen. Du wirst nie wissen, wie ein Apfel durch meine Augen aussieht – oder die irgendeines anderen Menschen. Eine erstaunliche Tatsache, die vielleicht einige der spektakulären Geschmacksverirrungen dieser Welt erklären kann.

 

Fashion Delight

 

Be my tiger

 

Die Pforten der Wahrnehmung

So technisch ausgereift unsere eingebauten Virtual-Reality-Gerätschaften auch sein mögen – wir sollten ihre Möglichkeiten keinesfalls überschätzen.

Zunächst einmal kann unser System nur ein winziges Scheibchen der Welt darstellen und ignoriert dabei dabei das große Ganze. Wenn wir uns die Realität wie die Aufführung eines Symphonieorchesters vorstellen, so können wir davon lediglich die Streicher wahrnehmen. Die mögen sich zwar toll anhören – aber wir bekommen von Bläsern, Perkussion und Chor absolut nichts mit. Wir müssen uns mit einer seichten Version der Realität begnügen.

 

Shallow world

“Die Welt ist so oberflächlich!”

 

Diese Beschränkung ist ein Hardware-Problem: Unsere Augen können nur einen winzigen Teil des Lichtes wahrnehmen, das da draußen umherschwirrt. Was wir als “Licht” bezeichnen, ist nur ein Bruchteil des gesamten elektromagnetischen Spektrums, in dem die Natur erstrahlt. Was wir sehen können sind die Wellenlängen zwischen Infrarot und Ultraviolet – eine ziemlich dünne Scheibe einer Spanne, die von Radio- über Mikrowellen bis hin zu Röntgen- und Gammastrahlen reicht.

Visible Spectrum

Wie würde die Welt aussehen, wenn wir andere Arten von Licht wahrnehmen könnten? Schauen wir uns den Nachthimmel als ein Beispiel an.

Die folgenden Aufnahmen zeigen alle den gleichen Ausschnitt der Milchstraße. Sie sind jedoch so eingefärbt, dass sie Wellenlängen zeigen, die wir nicht sehen können – wie etwa Mikrowellen und Röntgenstrahlen. Das zweite Bild von unten auf der rechten Seite zeigt den uns vertrauten Anblick.

 

milky way spectra

 

Natürlich sind die von uns wahrnehmbaren Wellenlängen des Lichts kein Zufall. Die Evolution hat unsere Augen genau auf die wichtigste Lampe unserer Umgebung getrimmt – die Hauptfrequenzen des Sonnenlichts. Deshalb ist die optische Apparatur in unserem Kopf auch meist ziemlich praktisch – zumindest bei Tageslicht. “Dunkelheit” ist unser Wort für die Abwesenheit bestimmter Lichtsorten. Ein kurzer Blick ins Tierreich macht einem jedoch schnell klar, wo die Grenzen unserer Wahrnehmung liegen.

So können beispielsweise einige Schlangen Infrarot-Licht wahrnehmen. Das bedeutet, dass sie auch bei völliger “Dunkelheit” die Körperwärme ihrer Beutetiere sehen können, während sie nachts jagen. Bei vielen Vogelarten erkennen sich Männlein und Weiblein an den verschiedenen “Farben” ihrer Gefieder im Ultraviolett-Bereich – für unsere Augen sehen Sie dagegen völlig identisch aus.

Die gleichen Beschränkungen gelten für unsere übrigen Sinne. Der Soundtrack unseres Kopfkinos wird vom Gehirn erschaffen, indem es Informationen von unseren Ohren über bestimmte Luft-Vibrationen in “Töne” verwandelt. Fledermäuse finden mit Ultraschall ihren Weg, den wir nicht hören können. Es ist gut möglich, dass sie mit ihren Ohren “sehen” können. Aber wir werden wohl nie herausfinden können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein.

Der Geschmack von Zucker und der Duft einer Rose sind die Reaktionen unseres Gehirns auf bestimmte Moleküle, für die unsere Zungen und Nasen die passenden Detektoren haben. Viele Substanzen jedoch bleiben für uns völlig geruch- und geschmacklos, weil wir nicht über die passenden Rezeptoren verfügen. Es gibt eine unendliche Anzahl von “Anblicken”, “Geräuschen”, “Gerüchen” und “Geschmäckern” da draußen, deren Erlebnis uns für immer verschlossen bleiben wird – unsere Sinne schlagen ganz einfach nicht darauf an.

Außerdem gibt es noch völlig andere Möglichkeiten jenseits der menschlichen Sinne: Haie nehmen beispielsweise kleinste elektrische Impulse in den Körpern ihrer Beutefische wahr, während Vögel mithilfe des irdischen Magnetfelds navigieren.

So schwierig die Vorstellung auch sein mag – das Erlebnis in unserem Kopf ist nichts weiter als eine einzige von unendlich vielen Möglichkeiten, die Realität wahrzunehmen. Unser Virtual-Reality-Headset kann nur einen winzigen Ausschnitt der Signale aufnehmen, die die Welt parat hält.

Soweit zur Auswahl des Rohmaterials. Jetzt folgen noch eine gründliche Nachbearbeitung und der Schnitt.

 

Die Endfassung

Wir sollten uns umgehend von der Illusion befreien, dass unser Virtual Reality System wenigstens seine dünne Scheibe der Realität objektiv oder verlässlich darstellt. In den Worten des Hirnforschers Michael O’Shea befeuern die von den Sinnesorganen ins Gehirn gesendeten Signale zwar unsere Wahrnehmung – sie sind dabei jedoch nur einer von mehreren entscheidenden Faktoren.  “Wir können empfinden, was wir nicht wahrnehmen; wahrnehmen, was wir nicht empfinden; und mehr als eine Empfindung aus den gleichen Wahrnehmungen konstruieren…unser Erlebnis der Welt ist nicht mehr als eine wohlbegründete Vermutung des Gehirns darüber, was ihm die Sinnesorgane melden.”

Unser Gehirn filtert, interpretiert und verzerrt die Realität, um sie überzeugender und sinnvoller erscheinen zu lassen, und um uns vor einer totalen Informationsflut zu schützen. Hast du Zweifel daran, dass du in einer kräftig redigierten Fassung der Realität lebst? Dann versuche es doch einfach mal mit den folgenden Experimenten.

 

checkerboard illusion

 

Die mit A und B markierten Flächen haben exakt die gleiche Farbe. Du glaubst es nicht? Dann verdecke einfach den Zwischenraum und so viel wie möglich rundherum mit deinen Fingern, bis du nur noch die beiden markierten Flächen sehen kannst.

Oder wie wäre es hiermit?

 

blue and green

 

In diesem Beispiel haben die “grüne” und “blaue” Spirale ebenfalls die gleiche Farbe. Hier siehst du mit Photoshop entnommene Proben, eine aus der “grünen” und die andere aus der “blauen” Spirale:

greenblue2

Wenn du ganz genau hinschaust, wirst du bemerken, dass sich lediglich die orangefarbenen Streifen unterscheiden.

Gönne dir zu guter letzt das folgende Video – es dauert nur anderthalb Minuten. Du musst dich dabei aber wirklich unbedingt genau darauf konzentrieren, nur die Pässe der Teilnehmer in Weiß zu zählen! Rund die Hälfte aller Testpersonen liegt völlig falsch – Wie schneidest du ab?

 

 

“Wie dem Gehirn ein solcher Kraftakt der Bildmanipulation gelingen kann, entzieht sich derzeit unserem Verständnis…Es hat tatsächlich den Gorilla aus der optischen Wahrnehmung wegretuschiert”, schreibt O’ Shea.

 

Artificial Virtual Reality – bald ganz in Ihrer Nähe

IT-Giganten wie Google, Facebook, Sony, Microsoft und Samsung stecken riesige Summen in die Entwicklung von Virtual-Reality-Brillen. Viel spricht dafür, dass die Technologie bald wirklich ein Massenphänomen wird. In den Worten des Bewusstseinsphilosophen Thomas Metzinger wird das die gravierende Folge haben, dass die Menschen “langsam ein neues und intuitives Verständnis dafür entwickeln werden, was ihre eigene bewusste Erfahrung wirklich ist und was sie schon immer gewesen ist…bewusste Erfahrung ist genau das: ein virtuelles Modell der Welt, eine dynamische interne Simulation, die man in Standardsituationen gar nicht als solche bemerkt, weil sie sagenhaft transparent ist – wir schauen ‘durch sie hindurch’, als ob wir in direktem und unmittelbarem Kontakt mit der Realität stünden.”

Diane Ackerman bezeichnet es als “eine der größten Paradoxe des menschlichen Daseins, dass die satte Schicht von Empfindungen, die wir so sehr schätzen, gar nicht direkt vom Gehirn wahrgenommen wird. Das Gehirn ist still, das Gehirn ist dunkel, das Gehirn schmeckt nichts, das Gehirn hört nichts. Es empfängt nur elektrische Impulse – aber weder das opulente Süß schmelzender Schokolade, noch das federleicht schwebende Solo der Oboe oder das Kribbeln einer Liebkosung, und auch nicht den in pastellenen Lavender- und Pfirsich-Farben erstrahlenden Sonnenuntergang über einen Korallenriff – sondern nichts als Impulse. Das Gehirn ist blind, taub, stumm und gefühllos…Realität ist eine Fiktion, auf die wir uns geeinigt haben.”

Jetzt aber genug der Vorrede. YourBrain Filmstudios Inc. wünscht dir noch viel Vergnügen mit deinem Perfect Virtual Reality System.

 

 

 

Literatur:

Diane Ackerman (1990): “A Natural History of the Senses”

Matteo Farinella, Hana Ros (2013): “Neurocomic”

Thomas Metzinger (2016): “Virtual Reality Goes Mainstream: A Complex Convolution

Thomas Nagel (1974): “What is it like to be a bat?”

Michael O’Shea (2005) “The Brain: A very Short Introduction”


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