Ganz unten ist reichlich Platz

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Wir Menschen wollen ja gerne immer höher und weiter hinaus. Aber warum ständig in die Ferne schweifen? Die umgekehrte Richtung – tiefer und näher – ist genauso vielversprechend. Denn sie führt uns geradewegs in die die verrückte Welt der Atome, aus denen alles besteht – einschließlich du und ich.

Mittlerweile verstehen wir Menschen diese Grundbausteine der Materie ganz gut. Aber wir haben kaum damit angefangen, die erstaunlichen Möglichkeiten ihrer schieren Winzigkeit zu nutzen. Sollte es der Nanotechnologie bald gelingen, Atome wie Lego-Steine zusammenzubauen, würde sie unser Leben revolutionieren. Warum nicht das gesamte Wissen der Menschheit in einem Staubkorn speichern? Oder Chirurgen bauen, die man verschlucken kann?

Für unsere Expedition in die erstaunliche Welt des Klitzekleinen habe ich den perfekten Fremdenführer eingespannt: Den genialen Physiker Richard Feynman. Die Welt der Atome war sein Steckenpferd und er selbst in den Worten eines Kollegen eine “unmögliche Mischung aus theoretischem Physiker und Jahrmarktschreier” – also genau unser Mann!

 

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Die erste Atombombenexplosion – Warum nicht ohne Schutzbrille?

Schon als Kind zeigte Feynman außergewöhnliche Fähigkeiten: Die Nachbarn sagten ihm nach, er könne allein mit seinen Gedanken Radios reparieren. Um Hitler zu stoppen, beteiligte sich Feynman nach seinem Studium in den USA am streng geheimen “Manhattan Project” – dem Bau der ersten Atombombe. Dabei machte sich der Exzentriker einen Spaß daraus, die Safes seiner Vorgesetzten zu knacken und Sicherheitskontrollen zu umgehen. Als einziger beobachtete er 1945 die erste Test-Zündung ohne Schutzbrille – nur weil er die nukleare Explosion “in ganzer Fülle erfahren” wollte. Erst nach dem Abwurf der ersten Atombombe auf Japan machte er sich in einem Cafe wirklich bewusst, welch unfassbare Zerstörungskraft er mit entfesselt hatte.

 

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Ich schaute aus dem Fenster und stellte mir das Ausmaß der Zerstörung vor, die die Hiroshima-Bombe verursacht hatte”
(aus Ottaviani, p. 104)

 

Ab geht’s nach ganz unten

Bald darauf lenkte Feynman seine Aufmerksamkeit von der zerstörerischen Kraft der Atome auf deren konstruktive Möglichkeiten. Die Größe eines Atoms erläutert er so: “Vergrößert man einen Apfel so lange, bis er die Ausmaße der Erde hat, dann sind die Atome in dem Apfel ungefähr so groß wie der ursprüngliche Apfel.”

In einer berühmten Rede aus dem Jahr 1959 mit dem Titel “There’s plenty of Room at the Bottom” (Auf deutsch etwa “Ganz unten ist reichlich Platz”) zeigt Feynman die erstaunlichen Möglichkeiten auf, die sich allein daraus ergeben, dass Atome so unglaublich klein sind. Was könnten wir alles tun, wenn wir Dinge aus einzelnen Atomen zusammensetzen könnten? Wie weit könnten wir Technologie verkleinern?

Mit diesen Überlegungen war der Bongo-Spieler und bekennende Striptease-Bar-Besucher seiner Zeit um Jahrzehnte voraus – er gilt deshalb als geistiger Vater der Nanotechnologie. Diese hat heute tatsächlich damit angefangen, Dinge aus einzelnen Atomen zu konstruieren.

 

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Die Encyclopaedia Britannica auf einem Stecknadelkopf – das ist gar nichts!

Schon vor Feynmans Rede war es findigen Bastlern gelungen, das gesamte “Vater Unser” auf einen Stecknadelkopf zu schreiben. Feynman zeigt sich davon jedoch völlig unbeeindruckt: “Das ist nichts; das ist der primitivste und zögerlichste Schritt in die Richtung, über die ich jetzt reden möchte.” Er rechnet vor, dass es angesichts der Winzigkeit von Atomen theoretisch problemlos möglich wäre, nicht nur das Vater Unser, sondern den gesamten Inhalt der Encyclopaedia Britannica auf einen Stecknadelkopf zu schreiben – alle Seiten der damals 24 üppigen Bände!

Damit ist Feynman aber noch immer nicht zufrieden: “Nun, der Titel dieser Vorlesung lautet ‘Da unten ist reichlich Platz’ und nicht nur ‘Da unten ist Platz’.” Also: Was wäre machbar, wenn wir wirklich bis zum Limit gehen und Informationen mithilfe eines Codes aus einzelnen Atomen darstellen? Und wenn wir dafür nicht nur die Oberfläche eines Materials nutzen, sondern auch das Innere?

Um das ganze praktikabel zu machen, nimmt Feynman großzügig an, dass wir für die Darstellung eines einzelnen Buchstabens einen Mini-Block aus rund 600 Atomen nutzen.

“Es stellt sich heraus, dass die gesamte Information, die die Menschheit in allen Büchern dieser Welt sorgfältig angehäuft hat, in dieser Form in einen Würfel aus Material mit einer Kantenlänge von etwa 0,1 Millimetern geschrieben werden kann – das entspricht dem kleinsten Staubkorn, den das menschliche Auge gerade noch wahrnehmen kann. Also – es gibt da unten reichlich Platz!”

 

Mutter Natur hat das Copyright

So erstaunlich und verrückt das klingen mag – Feynman konnte ganz einfach beweisen, dass diese unglaubliche Miniaturisierung von Information kein Hirngespinst ist, sondern tatsächlich möglich ist. Denn wenige Jahre zuvor hatten Forscher die Struktur des Erbguts entschlüsselt – die Strickleiter-förmige DNA-Doppelhelix, in der unsere Erbinformationen gespeichert sind. Und siehe da: DNA benötigt für die Speicherung ihrer einzelnen “Buchstaben” sogar noch weniger Atome als von Feynman veranschlagt. Wir brauchen also die Miniaturisierung gar nicht von Grund auf neu erfinden, sondern nur von Mutter Natur abgucken. Dazu Feynman:

“Diese Tatsache – dass riesige Mengen an Informationen auf extrem kleinem Raum gespeichert werden können – ist natürlich den Biologen sehr vertraut…In der kleinsten Zelle ist die gesamte Information enthalten, die für die Organisation einer komplexen Kreatur wir uns nötig ist.”

Erst seit der Entzifferung von Genomen in den vergangenen 20 Jahren wissen wir heute genau, wie viel Information tatsächlich in der DNA zahlreicher Lebewesen enthalten ist. Das Ergebnis – hier zusammengefasst von dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins – ist erstaunlich:

“Eine einzige menschlichen Zelle hat genug Speicherplatz, um darin die gesamte Encyclopaedia Britannica, alle 30 Bände, drei oder vier mal zu sichern. In einem einzigen Lilien-Samen oder einem einzigen Salamander-Spermium gibt es genug Speicherplatz für 60 Kopien der Encyclopaedia Britannica. Einige Arten der ungerechterweise ‘primitiv’ genannten Amöben haben sogar so viele Informationen in ihrer DNA wie 1000 Encyclopaedia Britannicas.”

 

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Unsichtbare Maschinen 

Aber Feynman schwebt weit mehr vor als klitzekleine Datenspeicher. “Das biologische Vorbild für die Speicherung von Informationen in sehr kleinem Maßstab hat mich dazu inspiriert, darüber nachzudenken, was möglich sein sollte. Biologie schreibt nicht nur einfach Informationen, sie tut etwas damit. Ein biologisches System kann extrem klein sein. Viele Zellen sind sehr winzig, aber sie sind sehr aktiv; sie stellen verschiedene Substanzen her; sie bewegen sich fort; sie schlängeln sich; und sie machen alle möglichen wunderbaren Dinge—und dies alles auf kleinstem Raum…Stellt euch die Möglichkeit vor, dass wir klitzekleine Dinge herstellen können, die tun, was wir wollen—dass wir ein Objekt anfertigen, das auf diesem Level manövriert!”

Feynman macht sich dann Gedanken darüber, was man noch alles mit Verkleinerung anstellen könnte und hat einige radikale Ideen: “Ich weiß, dass Computer-Maschinen sehr groß sind; sie füllen ganze Räume. Warum können wir sie nicht sehr klein machen, aus kleinen Drähten, kleinen Elementen – und mit klein meine ich klein.” Was in den Ohren seiner Zeitgenossen wie verrückte Science-Fiction klang, ist heute bereits Realität geworden – ein halbes Jahrhundert nach seiner Rede tragen wir alle Supercomputer in Form von Smartphones in unseren Taschen mit uns herum.

Im Gegensatz dazu klingen viele andere von Feynman vorausgesagten Anwendungen der Miniaturisierung noch heute utopisch – etwa die Idee, “seinen Chirurgen zu verschlucken” oder Motoren so weit zu verkleinern, dass man sie gar nicht mehr sehen kann.

 

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Das Potenzial der Technologie ist jedoch kaum umstritten und die Fortschritte gewaltig. Dazu der Physiker Michio Kaku: “Schon in diesem Jahrhundert werden wir möglicherweise das wichtigste Werkzeug besitzen, das man sich überhaupt vorstellen kann—Nanotechnologie, die uns erlaubt, einzelne Atome zu manipulieren. Dies könnte eine zweite industrielle Revolution in Gang setzen, wenn molekulare Fertigung neue Materialien erschafft, von denen wir heute nur träumen können, superstark und superleicht, mit erstaunlichen elektrischen und magnetischen Eigenschaften.”

Auch in der Medizin sind die möglichen Anwendungen grenzenlos: “Ein Ziel der Nanotechnologie ist etwa, molekulare Jäger zu kreieren, die Krebszellen verfolgen und zerstören und dabei normale Zellen intakt lassen…in der Zukunft werden (Nano-Partikel in unserem Blut) Krebszellen aufspüren, und zwar Jahre oder gar Jahrzehnte bevor sie überhaupt einen Tumor bilden können.”

Schon zu Lebzeiten Feynmans gab es auf dem Gebiet gewaltige Fortschritte, deren Tempo ihn selbst überraschte. Am Ende seiner Rede von 1959 lobte er zwei Preisgelder von jeweils 1000 Dollar aus: Für den ersten funktionierenden Motor mit einer Kantenlänge von nur 0,4 Millimetern und das Schreiben mit Buchstaben, die so klein sind, dass man damit tatsächlich die ganze Encyclopaedia Britannica auf einen Stecknadelkopf quetschen könnte. Den ersten Preis musste er schon 1960 auszahlen, den zweiten Mitte der 80er Jahre.

 

 

Kein normales Genie

Seinen Nobelpreis erhielt Feynman wenige Jahre nach seiner prophetischen Vorlesung – für seine Neuformulierung der Theorie subatomarer Teilchen. Er wollte die Ehre zuerst ablehnen, weil ihm Zeremonien und Autoritäten verhasst waren. Später sagte er: “Den Preis habe ich dafür gewonnen, ein großes Problem unter den Teppich zu kehren.” Seine Herangehensweise mit Hilfe von Mini-Diagrammen aus welligen Linien war derart neu, dass er andere Physiker damit zur Verzweiflung brachte. Nach den Worten eines Kollegen geben “gewöhnliche Genies” anderen Wissenschaftlern das Gefühl, dass sie das gleiche tun könnten, wenn sie sich nur etwas mehr anstrengen würden. Außergewöhnliche Genies dagegen praktizieren Magie. “Ein Magier tut Dinge, die kein anderer jemals tun könnte und die völlig unerwartet erscheinen. So einer ist Feynman.”

Feynman starb 1988 im Alter von 69 Jahren. Seine letzten Worte: “Zum Glück muss ich nicht zwei mal sterben. Das ist so nervig.”

 

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Literatur:

Richard Feynman: “There is plenty of Room at the Bottom”, in: “The Pleasure of Finding Things Out”

Richard Feynman: “Atoms in Motion”, in: “Six Easy Pieces”

Richard Dawkins: “The Blind Watchmaker”

James Gleick “Richard Feynman – Thinker, Scientist, Humanitarian” Obituary in New York Times

Michio Kaku: “Physics of the Future: How Science will Shape Human Destiny and our Daily Lives by the Year 2100”

Jim Ottaviani und Leland Myrick: “Feynman”


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