Das schmutzige Geheimnis der Mathematik

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Mit einem solchen Titel kann ich wohl kaum verheimlichen, dass es diesmal um Mathe geht. Aber keine Angst: Wir reden nur darüber, ohne eine einzige Zahl zu erwähnen – versprochen!  Auch wenn dir allein der Gedanke an Mathe Kopfschmerzen bereitet, musst du wohl trotzdem zugeben, dass sie ziemlich gut funktioniert: Ohne Mathematik und ihren Bruder Physik gäbe es keinerlei moderne Technik, und du könntest diese Zeilen nicht lesen. Aber warum ist Mathe so nützlich? Ich weihe dich hiermit in ein schmutziges Geheimnis ein: Wir wissen es ganz einfach nicht.

Die Leistungen der Mathematik können einem fast etwas unheimlich sein – mit eiskalter Präzision beschreibt sie zahllose Aspekte unserer Welt. Die Geschichte der Physik und Astronomie ist gespickt mit Männern (ja, meist waren es leider wirklich Männer), die vom heimischen Sofa aus einzig mit Zettel und Stift bewaffnet vollkommen verrückte Dinge vorhersagten – von unsichtbaren bizarren Elementarteilchen bis hin zu Schwarzen Löchern am Rande des Universums. Von ihren Zeitgenossen wurden diese “Spinner” dafür zunächst oftmals mit mitleidigem Kopfschütteln bedacht. Doch siehe da: Die Technik entwickelt sich weiter und bestätigte oftmals Jahrzehnte später selbst die abstrusesten Prognosen durch direkte Beobachtung bis ins kleinste Detail. Die “Spinner” hatten tatsächlich richtig gerechnet und die unfehlbar scheinende Mathematik erzwang praktisch die Existenz dieser mysteriösen Erscheinungen. Wie ist das nur möglich? Warum können ein paar Gleichungen auf einem Zettel die Existenz von Schwarzen Löchern und Elementarteilchen beweisen, ohne dass man überhaupt durch ein Teleskop oder Mikroskop gucken muss?

 

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Den gesunden Menschenverstand abschalten, den Gleichungen folgen

Schon Galileo Galilei führten vor rund 400 Jahren seine Experimente in Pisa zu der Erkenntnis: “Die Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.” Auch Albert Einstein fand die Macht der Mathematik verblüffend: “Wie ist es möglich, daß die Mathematik, die doch ein von aller Erfahrung unabhängiges Produkt des menschlichen Denkens ist, auf die Gegenstände der Wirklichkeit so vortrefflich passt? Kann denn die menschliche Vernunft ohne Erfahrung durch bloßes Denken Eigenschaften der wirklichen Dinge ergründen?” An anderer Stelle bemerkte er: “Das Unbegreiflichste am Universum ist im Grunde, das es begreifbar ist.”

Einstein wusste, wovon er redete. Seine Relativitätstheorie ist ein Paradebeispiel für die fast unheimliche Macht der Mathematik: Einstein war wie kein anderer Mensch vor ihm mutig genug, seinen gesunden Menschenverstand über Bord zu werfen und seinen Gleichungen blind in eine Welt zu folgen, in der eine Ameise die Masse der ganzen Erde haben und ein Wimpernschlag tausend Jahre dauern kann. Selbst den Mitgliedern des schwedischen Nobelpreis-Kommitees waren seine Berechnungen nicht geheuer – Sie ließen deshalb eine der größten gedanklichen Leistungen der Weltgeschichte links liegen und gaben ihm den Preis für etwas völlig anderes. Schon kurz darauf sollte sich natürlich endgültig zeigen: Die Gleichungen der Relativitätstheorie haben recht, der gesunde Menschenverstand dagegen irrt.

Eigentlich haben wir es hier gleich mit zwei Wundern zu tun – nämlich erstens, dass Naturgesetze in der Sprache der Mathematik formuliert werden können und zweitens, dass wir sie auch noch entdecken und verstehen können. Einsteins Kollege Erwin Schrödinger spekulierte, dass wir womöglich niemals wirklich begreifen werden, warum wir überhaupt so viel über die Natur erfahren können – obwohl wir doch selbst Teil der Natur sind.

 

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Werden Naturgesetze entdeckt oder erfunden?

Noch immer scheiden sich Geister an der Frage, ob wir Menschen die Mathematik nur erfinden, um die Welt zu beschreiben, oder ob wir ihre Regeln entdecken. Anders gefragt: Existiert Mathematik unabhängig von uns Menschen als Grundeigenschaft der Natur oder ist sie eine reine Kopfgeburt?

Schon die alten Griechen fragten sich, ob unser Universum in einem gewissen Sinne mathematisch ist. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was man alles mit Gleichungen beschreiben kann – Bewegung, Schwerkraft, Elektrizität, Magnetismus, Licht, Radioaktivität, und und und. Wohin wir unsere Aufmerksamkeit in der Natur auch lenken: Überall tauchen Gleichungen auf, die natürliche Phänomene exakt beschreiben und sogar präzise Vorhersagen über zukünftige Ereignisse erlauben – etwa, wann genau die nächste Sonnenfinsternis auftritt. Der Astronom Neil deGrasse Tyson beschreibt es so: “Die Mathematik ist unfassbar nützlich, wenn man bedenkt, dass wir sie einfach in unseren Köpfen erfunden haben – man findet sie ja nicht unter irgendeinem Felsen.”

Solche mit mathematischen Gleichungen beschreibbare Muster in der Natur nennen wir Naturgesetze. Die meisten davon sind nicht einmal besonders kompliziert. Vielmehr scheinen die Grundregeln der Natur insgesamt eher überraschend einfach – auch wenn sie uns Laien wegen ihrer vielen unbekannten Symbole zunächst erschreckend komplex erscheinen. Weil wir diese Naturgesetze nicht im herkömmlichen Sinne unter irgendeinem Felsen in Stein gemeißelt vorfinden, können wir leider niemals genau wissen, ob sie wirklich “wahr” sind oder nur zufällig gut passen. Denn eins sollte man nicht vergessen: In der Geschichte der Wissenschaft wimmelt es auch von “unumstößlichen” Gesetzen, die sich dann doch irgendwann als falsch oder zumindest als unvollständig entpuppten. So geschah es etwa mit Newtons klassischen Bewegungsgesetzen, einem Meilenstein in der Geschichte der Physik: Es stellte sich heraus, dass sie nur einen Spezialfall von Einsteins Relativitätstheorie beschreiben – ihre Ergebnisse stimmen nur, wenn das Tempo einen gebührenden Abstand zur Lichtgeschwindigkeit einhält. Das ist zwar in unserer direkten Umgebung meist der Fall, aber weiter draußen im Universum bei weitem nicht.

 

Einsteins Notebook

Eine Seite aus Einsteins Notizbuch – Habe ich gerade wirklich geschrieben, dass die Relativitätstheorie eine relativ einfache Theorie ist? 

 

“Es grenzt ans Mysteriöse”

In einem berühmten Essay aus dem Jahre 1960 grübelt der Kernphysiker und Nobelpreisträger Eugen Wigner über die “unvernünftige Effektivität der Mathematik in den Naturwissenschaften”. An seinen Argumenten arbeiten sich noch ein halbes Jahrhundert später Philosophen und Mathematiker ab. Wigner floh vor den Nazis von Berlin in die USA und engagierte sich dort aus Angst vor Hitler für das amerikanische Atombombenprojekt. Amerikanische Kollegen bezeichneten ihn dort wegen seiner „überirdischen“ geistigen Fähigkeiten als „Marsmenschen”. Trotzdem muss auch Wigner einräumen: “Die enorme Nützlichkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften ist etwas, das ans Mysteriöse grenzt, und es gibt keine rationale Erklärung dafür.”

Dass bei der Berechnung von Naturphänomenen oftmals so überwältigend genaue Ergebnisse herauskommen, deutet Wigner jedoch als Indiz dafür, dass die Mathematik mehr sein muss als bloße Einbildung und stattdessen ein wirklicher Teil der Natur selbst ist: “Dies zeigt, dass einiges dafür spricht, dass die Sprache der Mathematik mehr ist als die einzige Sprache, die wir sprechen können. Es zeigt, dass sie in einem wirklichen Sinne die korrekte Sprache ist.”

 

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Ist Gott ein Mathematiker? 

Der Physiker und Wissenschaftsphilosoph Max Tegmark geht in seinem Buch “The Mathematical Universe” noch viel weiter als Wigner. Er argumentiert, dass zahlreiche Aspekte der Natur wie etwa Raum und Elementarteilchen eigentlich nur Mathematik sind, weil ihre einzigen Eigenschaften mathematischer Natur sind. “Unsere Welt wird nicht nur von der Mathematik beschrieben, sondern sie besteht aus Mathematik. In einem gigantischen mathematischen Objekt sind wir die Teile mit einem Bewusstsein…Alles in unserer Welt besteht einzig aus Mathematik – einschließlich du”.

Der Astrophysiker Mario Livio hält in seinem Buch “Ist Gott ein Mathematiker” solche Spekulationen für völlig übertrieben. Er argumentiert zum Beispiel, dass sich die Wissenschaft ganz einfach fast nur mit Problemen beschäftigt, die man auf mathematische Weise lösen kann. Auch andere Skeptiker beharren darauf, dass die Mathematik nur eine Annäherung an die Wirklichkeit ist, aber nicht die Wirklichkeit selber – und außerdem nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit beschreibt. Deshalb warnen sie davor, ihre Erfolge zu überschätzen.

In dieser Debatte ist kein Ende in Sicht, und so überlasse ich jetzt dem “Marsmenschen” Wigner das letzte Wort: “Im Grundsatz wissen wir nicht, warum unsere Theorien so gut funktionieren…aber lassen Sie uns mit einer erfreulicheren Bemerkung schließen. Das Wunder der Zweckmäßigkeit der Sprache der Mathematik für die Formulierung physikalischer Gesetze ist eine herrliche Gabe, die wir weder verstehen noch verdienen. Wir sollten dafür dankbar sein”.

 

 

Quellen:

Max Tegmark: Our Mathematical Universe: My Quest for the Ultimate Nature of Reality (Knopf, 2014)

Mario Livio: Is God a Mathematician? (Simon & Schuster, 2010)

Eugene Wigner: “The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences,” in Communications in Pure and Applied Mathematics, vol. 13, No. I (February 1960)

Erwin Schrödinger: What is Life? (CUP, 1944)

Derek Abbott, “The reasonable ineffectiveness of mathematics,” Proceedings of the IEEE, Vol. 101, No. 10, pp. 2147-2153 , 2013.

Das Zitat von Neil deGrasse Tyson stammt aus einer Unterhaltung mit Richard Dawkins (The Poetry of Science; zu sehen auf Youtube)

Das Zitat von Albert Einstein stammt aus der Rede “Geometrie und Erfahrung”

Die Einstein-Postkarte zeigt ein Gemälde von Quint Buchholz.


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