Die Außerirdischen sind unter uns

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Der große Astronom Carl Sagan spekulierte in seiner legendären Fernsehserie Cosmos in den 80-er Jahren darüber, ob komplexe Lebewesen auch auf einem Planeten wie dem Gasriesen Jupiter entstehen könnten, der überhaupt keine feste Oberfläche hat. Das Leben solcher Wesen und ihre gesamte Evolution müsste sich demzufolge komplett in der “Luft” abspielen – ohne Bodenkontakt. Die Idee erschien so abstrus, dass sich Sagan selbst später davon verabschiedete. Stattdessen rasen sie hier über unsere Dächer. Die Außerirdischen sind mitten unter uns.

Sie sind nicht von dieser Welt – beinahe überirdisch. Mit einem ohrenbetäubenden Fiepen rauschen sie pfeilschnell über die Dächer von Kreuzberg, jagen selbstvergessen bei ihrem Fangspiel im Slalom um die Kamine. Die bewundernden Zuschauer scheinen sie bei ihrer Luftakrobatik gar nicht wahrzunehmen. Warum auch? Was haben Mauersegler schon von Kreaturen wie uns zu befürchten, die untrennbar mit dem Boden verhaftet sind – fast wie Pflanzen?

Anfang Mai bevölkern sie über Nacht plötzlich wieder unseren Himmel und ihr schriller Ruf durchdringt die Luft. Er klingt nach Grillen auf der Terrasse, Barfuß-Frisbee im Park, Open-Air Kino…Eine Verheißung  bevorstehender Sommerfreuden. Ihr Anblick und ihr Geschrei scheinen so vertraut, als wären sie nie weg gewesen. Dabei haben sie eine gewaltige Reise hinter sich. Seit fast einem Jahr sind sie in der Luft, ohne dabei auch nur ein einziges Mal zu landen. Nonstop.

 

 

Die Erde zieht unter ihnen vorbei

“Sie sind aus Bristol ins südliche Afrika geflogen und dann wieder zurück, ohne je etwas zu berühren, ohne etwas zu tragen, ohne sich jemals niederzulassen, ohne jemals zu landen, niemals müde…Es ist fast so, als erblicke man einen Seefahrer auf dem offenen Meer, der vom anderen Ende der Welt zurückkehrt. Was bedeutet die Heimkehr für einen Seefahrer? Wo waren sie, was haben sie gesehen? Wohin werden sie reisen? Werden sie jemals anhalten, um mir von dem zu erzählen, was sie wissen? Sie selbst sind die einzige Botschaft, die sie vom anderen Ende des Planeten und von ihrem langen Weg mitbringen. Sie waren in einer anderen Luft. Jetzt sind sie vorübergehend in der meinen; das ist alles. Die Erde zieht unter ihnen vorbei.”

Mit diesen Worten zelebriert der britische BBC-Journalist und Vogelfan Tim Dee die alljährliche Ankunft der Mauersegler in seiner Heimat. Mit seiner Hilfe werden wir uns heute das Wunder dieser einzigartigen Vögel erschließen. Wenn wir uns auf ihre Magie einlassen, können sie unserem Geist Flügel verleihen.

 

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“Als sei der Bogen mit dem Pfeil losgeflogen”

 

Erschaffen von den Gesetzen der Aerodynamik

“Als sei der Bogen gemeinsam mit dem Pfeil weggeflogen” — so beschrieb der britische Dichter Edward Thomas ihre Erscheinung. Auf den ersten Blick kann man sie mit Schwalben verwechseln, aber die Mauersegler haben längere, schmalere und sichelförmige Flügel. Erstaunlicherweise sind diese beiden Flugakrobaten überhaupt nicht direkt miteinander verwandt. Sie sehen nur deshalb so ähnlich aus, weil die Aerodynamik beiden das Design diktiert hat. “Sie sind wie ein Schaubild des Fluges, ein Modell der Aerodynamik in einem Windkanal”, so Dee.

Die Evolution basiert zwar einzig auf rein zufälligen Veränderungen – sie kennt keine Vorausplanung und strebt niemals auf ein bestimmtes Ziel zu. Aber auch willkürliche Bewegungen führen schnell in eine bestimmte Richtung, wenn der Platz so eng eingegrenzt wird wie von den starren Regeln des Luftwiderstands. Genau aus dem gleichen Grund sehen sich auch Haie und Delfine so ähnlich — obwohl sie der abgrundtiefe Graben zwischen Säugetieren und Fischen trennt.

Wir Menschen beanspruchen ja gerne den eigentlich völlig unsinnigen Titel “Krönung der Schöpfung” für uns. Nach Ansicht des Evolutionsbiologen Richard Dawkins haben die Mauersegler mit ihrem perfekten Design als “spektakuläre Flugmaschinen” jedoch das gleiche Recht dazu:

“Ein geschichtsbewusster Mauersegler, verständlicherweise stolz auf das Fliegen als offensichtlich größte Errungenschaft des Lebens, würde das Mauerseglertum als absoluten Höhepunkt evolutionären Fortschritts betrachten.”

 

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“We bring out the night” Artwork by Solinni

 

Ein Hochleistungs-Motor in einem Leichtbau-Chassis

Zur perfekten Aerodynamik gesellt sich bei den Mauerseglern eine extreme Leichtbauweise: Trotz einer Spannweite von rund 45 Zentimetern wiegen sie kaum so viel wie sieben Euro-Münzen – Ringeltauben sind zehn mal so schwer. Ihre Beine – in der Luft nutzloser Ballast – sind nichts weiter als verkümmerte Notbehelfe. Deshalb auch ihr lateinischer Name Apus apus – der Fußlose.

“Seit dem Verlassen des Nestes hat sich sein ganzes Leben in der Luft abgespielt. Er hat dazu Beine kaum benötigt. Wenn er beim Flüggewerden wieder zu seinem Nest zurückkehrt, fliegt er entweder direkt hinein oder krabbelt wie ein Beinamputierter ein paar Zentimeter, während er sich mit Hilfe der Flügel vorwärts bewegt. Wenn er in die Luft zurückkehrt, fällt er einfach hinein, purzelt lässig in den Himmel zurück, wo er lebt.”  (Dee, p. 210)

Wie bei allen Vögeln ist der Leichtbau des Mauerseglers gepaart mit einem rasanten Stoffwechsel, befeuert von einer extrem effektiven Sauerstoff-Versorgung: Die Lunge der Vögel ist so konstruiert, das die Luft sie immer in eine Richtung durchströmt und nicht wie bei uns erst ein- und dann ausgeatmet werden muss.

Bei ihren fantastischen Flugspielen erreichen Mauersegler Geschwindigkeiten von 200 Kilometer pro Stunde. Natürliche Feinde haben sie deshalb kaum zu befürchten – einzig Falken können ihnen als ebenso perfekte Luftjäger gefährlich werden.

Ihre ausgelassenen Luftspiele verraten, dass sie wie ihre urbanen Mitbewohner – wir Menschen – sehr soziale Wesen sind. Das täuscht jedoch darüber hinweg, dass sie auch sehr aggressiv auftreten können und gelegentlich verbittert um die besten Nistplätze kämpfen.

 

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(Osteologia avium; Or, a Sketch of the Osteology of Birds / II by T. C.  Eyton)

 

Schwebendes Baumaterial 

Außer beim Nestbau, Brüten und Füttern der Jungen spielt sich das Leben der Mauersegler vollständig in der Luft ab. Ihr Nest bauen sie in Hohlräume in den Dächern älterer Gebäude aus

“im Flug gesammelten und schwebfähigen Objekten…Dazu gehören Flugschuppen und -haare von Sämereien, Blätter, feine Grashalme, Federn und sogar Papierstücke”, wie es in einem Vogelführer heißt (Balzari p. 361). Ihre ursprünglichen Brutplätze auf Bäumen und Felsen nutzen sie nur noch ganz selten. Obwohl unnahbar, haben sie sich doch wie wir an eine urbane Lebensweise angepasst. Die Mauersegler bleiben meist dem Ort ihrer Geburt treu – oft nutzen junge Eltern den gleichen Nistplatz, in dem sie selbst das Licht der Welt erblickten.

Auch ihre Nahrung finden sie ausschließlich in der Luft – Insekten und Spinnen, die sie im Flug erbeuten. Zur Versorgung ihrer Jungen können sie etwa einen Esslöffel des Getiers in einem Kehlsack sammeln.

Bei Schlechtwetter sind sie plötzlich für ein paar Tage wie vom Erdboden – oder vielmehr wie aus dem Luftraum – verschwunden. Sie weichen dann zur Jagd auf Gewässer oder in hunderte Kilometer vom Brutplatz entfernte Gebiete aus. Ist die Schlechtwetterfront vorbei, sind auch die Mauersegler wieder da.

Ihre Küken lassen sie während dieser ausgedehnten Wanderungen einfach zurück im Nest. Die Jungen fallen dann in eine Art Hungerschlaf: Herzfrequenz und Körpertemperatur werden zur Energieeinsparung bis auf ein absolutes Minimum reduziert. Bis zur Rückkehr der Eltern halten sie so bis zu zehn Tage ohne Futter durch und verlieren dabei mehr als die Hälfte ihres Körpergewichtes. Halten Kälteperioden länger an, können Mauersegler in Massen sterben.

 

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Flügel wie dunkle Mondsicheln

Zur Übernachtung fliegen Schwärme hoch hinauf in den Himmel, um sich unter gelegentlichen Flügelschlägen einfach von den Luftströmungen treiben zu lassen.

Landet ein Mauersegler etwa aufgrund einer Kollision doch einmal auf dem flachen Boden, verwandelt sich der elegante Flugkünstler plötzlich in ein unbeholfenes Wesen unter Entzug seines Lebenselements – gleich einem Fisch auf dem Trockenen. Der Start fällt ihm dann wegen seiner verstümmelten Füße schwer. Tim Dee beschreibt den Fund eines gestrandeten Vogels:

“Ich bücke mich und hebe den Mauersegler auf. Er legt die panischen Flügel an und beruhigt sich in meiner Hand. Er ist unglaublich leicht, aber seine Wärme und gefiederte Energie sind deutlich spürbar, als würde ich Magnete aus Luft halten, die sich in meiner Hand gegenseitig abstoßen. Es ist immer wieder eine solche Überraschung, einen Vogel in der Hand zu halten. Zwischen meinen Fingern spiegeln sich Wolkenfetzen in seinen schwarzen Augen. Ich strecke meinen Arm aus, öffne meine Hand und werfe den Mauersegler sanft in den Himmel. Einen Augenblick lang scheint er zu zögern und zu fallen; dann aber, als habe er seine prächtigen Flügel von mir zurückerobert, schlägt er sie, dunklen Mondsicheln gleich, und entweicht zurück in sein Leben, abgehoben im Flug.”

 

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Ein Jungvogel (Photo: Klaus Roggel, Wikimedia Commons)

 

Sex in der Luft – Ein Vogel mit vier Flügeln

Selbst die Fortpflanzung haben Mauersegler soweit wie möglich in den Luftraum verlegt — sie haben Sex in der Luft. Dee erwischte einmal ein Pärchen in flagranti:

“Nach einem Sturzflug kopfüber ist er neben einem anderen Vogel, den er sich ausgesucht hat, und nähert sich diesem im Flug von hinten an; und dann, in einer Bewegung, die ich niemals vergessen werde, hebt er seine Flügel noch höher über seinen Körper und rutscht auf den Rücken des anderen Vogels, der seine Flügel ebenfalls anhebt, und für zweieinhalb Sekunden paaren sie sich. Dabei schlagen die Flügel beider Vögel im Gleichtakt, besonders kräftig so weit es geht, sie schneiden ganz nach unten und dann wieder ganz nach oben. Es scheint, als wären sie in der Luft verschmolzen, als habe ein Vogel vier Flügel. Dann ist es vorbei…zweieinhalb Sekunden schwarze Magie.”

Im August verschwinden sie genau so plötzlich, wie sie gekommen sind – von einem Tag auf den anderen sind sie nicht mehr da. Bei mir macht sich dann immer eine gewisse Melancholie breit – die Stille ohne ihr Fiepen ist ein umtrügerisches Anzeichen dafür, dass sich der Hochsommer dem Ende zuneigt. Die Mauersegler jedoch folgen dem Sommer und der Hitze in den Süden – wo sie sind, ist immer Sommer, ist es immer warm. Ach, könnten wir uns doch nur ihrem Zug anschließen… “Man sieht sie nie wegfliegen. Jedes Jahr wieder führen sie diesen Trick des Verschwindens auf. Sie leeren den Luftraum von sich selbst. Aus heiterem Himmel.”

 

Besonderer Dank an:

Thomas Krumenacker für seine inhaltlichen Ratschläge

Keld Sorensen für die Erlaubnis, sein Foto als Titelbild zu verwenden

Paolo Taranto (fotografianaturalistica.org) für die Erlaubnis, seine Fotos verwenden zu dürfen

 

Quellen:

Tim Dee: The Running Sky: A Bird-Watching Life (Vintage, 2010)

Richard Dawkins: The Ancestor’s Tale (Weidenfeld & Nicolson, 2004)

Carl’Antonio Balzari et al.: Vogelarten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz (Haupt, 2013)

Carl Sagan: “Cosmos” –  Alle Episoden dieses Klassikers sind auf Youtube verfügbar. Ich halte sie für Pflichtprogramm – schließlich war die Serie eine wichtige Inspirationsquelle für diesen Blog.

 

 


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